Beziehungen mit gesunden Grenzen sind frei, wild und verletzlich
Es gibt zahlreiche Bücher darüber, wie man lernt, „sich abzugrenzen“, „Nein!“ zu sagen und „besser für sich zu sorgen“. Alle mir bekannten Werke setzen sich mit diesem Thema jedoch bislang einzig auf VerhaltensEbene auseinander. Mit Ratschlägen und der Veränderung von Mustern. Mit vorgegebenen Sätzen, die man in KonfliktSituationen sagen soll und HandlungsVorschlägen, die man befolgen kann. Wenn man dieses Thema jedoch aus der Linse heraus betrachtet, dass wir Menschen primär emotionale Wesen sind, ändert das die ganze Diskussion dessen, worum es eigentlich geht, grundlegend.
Gesunde Grenzen entstehen in unserem Herzen; sie beruhen auf SelbstLiebe und SelbstWert und der Liebe und dem Respekt, anderen gegenüber. Gesunde Grenzen sind lebendiger, sich stetig wandelnder BeziehungsAusdruck. Sie sind ein Tanz mit unseren Bedürfnissen und Wünschen und deren Transagierbarkeit mit unseren Mitmenschen. Sie sind natürlicher Ausdruck unserer Individualität. Gesunde Grenzen sind durchlässig und stabil und werden stets Herz-offen und flexibel bewohnt und verhandelt.
Während unseres HeilungsPfades, während das Leben durch uns fließt, während wir wachsen und stetig lichter und leichter werden, ist es immer und immer wieder so wichtig, unsere aktuellen Grenzen in unseren verschiedenen LebensDomänen und unseren unterschiedlichen Beziehungen zu fühlen und uns dann damit auch transparent und verletzlich zu zeigen. Besonders jenen Menschen gegenüber, die uns am nächsten stehen. Mit unseren Partnern, Freunden, unseren FamilienMitgliedern, unseren Kindern. Gerade viele enge, nahe Beziehungen, die wir schon länger in unserem Leben haben, können voller co-abhängiger Muster stecken, vom Klebstoff fauler Deals und subtiler Schweige/StillhaltePflicht geprägt und belastet, weil sie dadurch unfrei werden. Es mag paradox klingen, aber Beziehungen mit gesunden Grenzen sind frei, wild und verletzlich; in ihnen ist die pure, ungeschützte Begegnung zweier Herzen möglich.
Die wenigsten von uns haben als Kinder gelernt und vorgelebt bekommen, wie man miteinander auf der Basis von Liebe und Respekt, im Interesse der eigenen gesündesten Version und der des anderen, Grenzen setzt und BeziehungsInteraktion und -Raum verhandelt. Die meisten Beziehungen beruhen vielmehr auf Kontrolle und Manipulation, auf versteckten AgendaPunkten und unausgesprochenen Druckmitteln; das macht sie so unfrei und unsicher: Niemand kann sich dort jemals wirklich öffnen und fallenlassen, vertrauen und ganz er selbst sein. In gesunden Beziehungen gilt stattdessen stets die HerzensÜbereinkunft, dass es immer um die gesündeste und wahrhaftigste Version von beiden InteraktionsPartern geht, auch wenn das für einen von beiden oder für beide schmerzhaft und unbequem ist.
Wenn wir als Kinder nicht im Miteinander unserer Eltern lernen konnten, wie erwachsene Peers miteinander BeziehungsRaum gesund und liebesvoll verhandeln und wir als Kinder nicht von unseren BezugsPersonen ermutigt wurden, unsere eigenen, ganz individuellen Grenzen fühlen und transagieren zu lernen, woher sollen wir es dann als Erwachsene wissen?
Gesunde Grenzen beruhen auf verletzlich-gefühlter SelbstLiebe, SelbstWert und SelbstRespekt
Viele Menschen setzen Grenzen, indem sie radikal und unverletzlich eine symbolische Tür zuknallen und dann weder offen dafür sind, was sie in der Tiefe fühlen, noch wie das entsprechende Gegenüber sich fühlt bzw. reagiert/antwortet, weil sie „dicht“ machen. Andere Menschen trauen sich hingegen grundsätzlich nicht, den Mund aufzumachen, ihre Wahrheit auszusprechen, für sich einzustehen, eine Ungerechtigkeit zu benennen oder eine Problemaktik zu verhandeln, weil sie Angst vor der Reaktion des anderen haben, sich nicht die Blöße geben wollen, keine DysHarmonie oder LiebesEntzug riskieren möchten. Dies sind zwei Seiten ein und derselben Medaille: Die einen Grenzen sind zu hart und Herz-verschlossen, die anderen sind scheinbar zu porös, während der entsprechende nicht-GrenzSetzer sich hinter seiner Unsichtbarkeit allerdings so gekonnt versteckt, dass er/sie auch nicht verletzlich wird, weil man ihn/sie schlicht nicht finden kann, während man durch sein/ihr grenzenloses HerzLand trampelt.
Gesunde Grenzen entstehen und resultieren aus verletzlich-gefühlter SelbstLiebe, SelbstWert und SelbstRespekt. Und diese Worte werden unfassbar schnell zur KommunikationsWaffe. Wie oft hört man Leute proklamieren: „Also, um mich weiter so von dir behandeln zu lassen, habe ich wirklich zu viel Respekt vor mir selber!“ oder „Das jetzt hier mal wirklich nachhaltig zwischen uns zu ändern, bin ich mir jetzt wirklich mal wert!!“ oder „Also, tut mir Leid, aber dafür liebe mich selbst viel zu sehr, um mich mit sowas wie dir noch länger abzugeben!!!“
Das ist keine verletzlich-gefühlte Version dieser drei Aspekte; vermutlich wird nicht einer dieser Aspekte tatsächlich gefühlt, wenn man das von so einem Fleck bringt. Dann sind es einfach nur Worte, die sich vermeintlich gut benutzen lassen, um Mauern zwischen sich und jemanden oder etwas zu stellen, der/die oder das einem wehtut. Grenzen sollten aber keine Mauern sein.
Grenzen sollten niemals dazu benutzt werden, eine eigene Wunde, Verletzung oder Unwert nicht in voller Tiefe zu fühlen: Sehr häufig wollen die SchutzKnoten unserer IPs Grenzen setzen, um nicht weiter in die eigene Tiefe zu müssen. Das sind VermeidungsGrenzen, die dir nicht dienen, weil sie eine Mauer zu deiner eigenen Tiefe darstellen, auch wenn du sie scheinbar im Außen gesetzt hast.
Durchlässige Grenzen sind ein SelbstZustand, bei dem das Herz offen und erreichbar bleibt, während du deutlich machst: Das kann ich mir mit dir vorstellen und wünsche es mir..., aber das geht nicht (mehr)! So können wir zusammen sein, aber so... nicht (mehr).
Es kann bedeuten, dass man eine Beziehung verändert, auf anderes Terrain verlegt, pausiert, beendet, vollendet. Es kann bedeuten, dass man um die nächste Version von Umgang, Nähe und Distanz verhandeln oder auch streiten muss. Aber das Herz bleibt stets offen und bereit, alles zu fühlen, was es mit dir macht und -sofern sich das irgendwie gesund transagierbar anfühlt- es dem anderen auch zu zeigen, was es mit dir macht.
Bereit sein, alles zu fühlen, was das Gegenüber in dir auslöst
Gesunde Grenzen resultieren ausnahmslos daraus, dass du zunächst alles vollständig in dich hineingelassen hast, was im BeziehungsRaum geschieht. Dass du bereit bist, dich davon vollständig fluten zu lassen, ohne dich zu wehren. Bereit, vollständig zu fühlen, was es mit dir macht. Nicht nur die Abwehr und den Widerstand, sondern vor allem auch das Verletzliche darunter. Dass du dich wirklich davon berühren lässt, was für eine Art von Kontrolle, Manipulation, falschen Deals, offenem oder verborgenem Missbrauch, Lügen, Verführung, Macht, Unterwerfung, OpferSpiele und subtile Gemeinheiten und Spielchen in diesem BeziehungsRaum stattfinden und ablaufen. Dass du dich dafür öffnest, wie und ob du daran beteiligt bist, auf welche (vielleicht vollkommen unbewusste) Weise du es einlädst, was dein Gewinn daran ist, es mitzumachen oder zu erdulden... Dass du dir nicht zu schade dafür bist, ehrlich zu fühlen, dass man dich so behandeln kann. Dass du dich der Ohnmacht oder Hilflosigkeit, der Demütigung oder Beschämung, der Verletzlichkeit oder Angst, die das auslöst, mit ganzem Herzen stellst.
Wenn du nämlich einfach nur reaktiv dagegen ankämpfst oder mit deiner eigenen Version von Kontroll/ManipulationsSpielchen „zurückschlägst“, bist du wahrlich mitten in dem ganzen Salat gefangen. Wenn du aber bereit bist, wirklich zu fühlen, was zwischen dir und dem anderen Menschen abläuft, wie es sich anfühlt, wie genau du behandelt wirst und wie genau du behandelst, wenn du es dich ganz ausfüllen lässt, ohne dich zu wehren, dann können unterschiedliche Dinge auftauchen:
1) Du kannst entdecken, dass dies eine Wiederholung aus deiner Kindheit ist und du diese Behandlung von früher kennst und offenbar noch nicht alle Aspekte daran geheilt hast, weil du es sonst nicht mehr in dein Leben ziehen würdest. Dann ist der andere Mensch ein Mama/Papa/GeschwisterTrigger und du kannst die Situation und Dynamik als Geschenk dafür nutzen, in deine nächst-tiefere HeilungsRunde einzusteigen
2) Du kannst entdecken, dass du selber einen entsprechenden Anteil in dir selber hast, der dich innerlich ohnehin schon so behandelt, wie dein äußeres Gegenüber und du dieses Gegenüber deshalb anziehst: Dann kannst du beginnen, diesen Anteil kennenzulernen, herauszufinden, warum er dich innerlich so behandelt, um ihn dann fühlend zu heilen
3) Du kannst entdecken, dass du weder getriggert bist, noch etwas Ähnliches in dir selber fühlst und findest, aber das eine UmgangsForm wie jene, die dir da gerade begegnet, einen blinden Fleck in dir selber darstellt: Du bislang nicht auf deinem BewusstseinsRadar hattest, dass es so etwas in der Schöpfung und zwischenmenschlich gibt. Dann kannst du Verantwortung dafür übernehmen, alles, was das in dir auslöst, in deinem Herzen zu verdauen und zu integrieren
Gesunde Grenzen sind VerhandlungsSache und vom emotionalen ReifeGrad der Beteiligten abhängig
Wenn du dich wirklich davon hast berühren lassen und beginnst, zu erkennen, was du selber mit der Situation zu tun hast, wird ein Gefühl in dir dafür auftauchen, was die nächst stimmige Grenze ist. Eine Verhandlung? Ein deutliches, klares Wort? Ein verletzliches Bewohnen deines eigenen Anteils daran? Ein TruthTelling oder Judgement? Eine Bitte? Eine Ankündigung von Konsequenzen? Ein inniger HerzensWunsch? Eine BeziehunsVeränderung? Abstand? Mehr Nähe, Verletzlichkeit und Offenheit? Ein BeziehungsEnde? Mehr gegenseitiges TruthTelling und weniger KomfortZone?
Je emotional geheilter und aus eigener SelbstLiebe kommend dein Gegenüber ist, desto weniger drastisch werden Grenzen im Zweifelsfall sein. Zwischen emotional reifen Menschen ist es ganz natürlich, ständig Grenzen zu verhandeln. Und manchmal muss man, obwohl die Liebe bleibt, auch eine Ende wählen, um dem weiteren Wachstum beider Herzen stimmigen Raum zu geben, wenn man den Klebstoff anders nicht aus dem BeziehungsRaum geheilt kriegt. Grenzen oder Abstand, eine Pause oder ein BeziehungsEnde müssen keineswegs bedeuten, dass die Liebe weg ist. Es bedeutet lediglich, dass man sie nicht mehr direkt oder so wie zuvor transagiert.
Wir sind so darauf konditioniert, alles auf Verhaltens- und HandlungsEbene zu bemessen, dass wir kein Gefühl dafür haben, dass Liebe-als-solche sehr wohl über ein BeziehungsEnde hinaus weiter bestehen bleiben kann. Dann bedeutet es lediglich, dass du zu diesem Zeitpunkt eine direkt transagierte Beziehung/Freundschaft zu diesem Menschen nicht mehr mit deinem eigenen HeilungsWunsch und deiner SelbstLiebe vereinbaren kannst. Oft ist gerade so ein deutliches „Nein, so nicht mehr...!“ die erste wirkliche Herz-offene Kommunikation zwischen Menschen. Wer kann schon wissen, ob da heraus die Beziehung viel tiefer, berührender und echter wird als je zuvor oder ob sie sich vollendet?
Gesunde Grenzen aus verletzlich-gefühlter SelbstLiebe, SelbstWert und SelbstRespekt bleiben nach dem benannten Inhalt, um den es dir geht, stets insofern durchlässig, dass du für die Reaktion des anderen dein Herz öffnest. Für die Wahrheit des anderen offen bleibst. Die Reaktion in dich hineinlässt. Erneut: Mit Menschen, die eher unbewusst und ungeheilt sind, kann das bedeuten, dass du ein Mal ihre volle Dosis an Urteil, Abwehr, Projektion und Widerstand ins Gesicht bekommst, sie reinlässt und dann gehst. In dem Bewusstsein gehst, dass dieses spezifische SeelenGeschwister von dir aktuell nicht in der Lage ist, sich tiefer mit seinen/ihren eigenen Ängsten und UnwertGefühlen auseinanderzusetzen und deine Wahrheit deshalb nicht anders als mit Abwehr beantworten kann. Du kannst das mit Mitgefühl in deinem Herzen aus einem gesunden Abstand fühlen – und es dann dabei belassen.
Mit Menschen, die bereit und fähig sind, verletzlich zu fühlen, was deine Wahrheit in ihnen auslöst, wird es weniger drastisch ablaufen müssen, weil sie auf ihrer Seite des BeziehungsRaums bleiben und nicht nach außen ventilieren müssen, was in ihnen abläuft, während sie es ihrerseits durchlässig mit dir teilen, dass sie vielleicht verletzt oder betroffen oder enttäuscht oder ängstlich oder verärgert sind. Wenn du das wiederum in dein Herz gelassen hast und fühlst, was es mit dir macht, während du deine Grenzen hältst, können Stabilität, Durchlässigkeit und Verletzlichkeit beständig weiter wachsen und man kann mit Grenzen geschmeidig tanzen.
Iona von der Werth, April 2017
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